Der Lorbas und der Tschabo zu Besuch bei Tante Mariechen

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Am 11. April um 20:00 Uhr kam mir die Ehre zuteil, in Herborn eine kleine Eröffnungsansprache zur feierlichen Neueröffnung des „Vintage Store“ (Zitat Facebook) Tante Mariechen zu halten.

Die Rede im Wortlaut:

Es ist mir eine große Freude, euch alle heute Abend hier begrüßen zu dürfen. Auch ist es mir eine Ehre, diese Worte sprechen zu dürfen – ich begrüße euch nun vor allem im Namen der Gastgeberin Alexandra Conrad.

Alex, du hast an dieser Stelle in diesem schönen Herborn erneut Wunderbares vollbracht.

Seit ziemlich genau drei Jahren, dem 01. März 2011 hast du dein berufliches Leben verschrieben.

  • Man könnte sagen: dem … Trödel.
  • Man könnte auch sagen: den versteckten Werten.
  • Oder: den materialisierten Geschichten in individuellen Gegenständen – denn wenn dieser Zylinder hier einst in einer Stückzahl von – sagen wir – einhundert Stück hergestellt wurde, war das noch weit entfernt von industrieller Massenfertigung. Das hat der Hutmacher in Handarbeit erledigt. Und wie viele „Geschwister“ wird dieser Hut heute noch haben?

Überhaupt: Allein dass diesem Zylinder – der selbstverständlich aus deinem werten Hause stammt, liebe Alex – mit unser aller Aufmerksamkeit geehrt wird, unterscheidet ihn.

Ich glaube, dass diese Wertschätzung, die diese Gegenstände bei dir erhalten, sie unterscheidet von anderen Gegenständen – und dass sie wie eine Brücke sind hin zu den Menschen, die diese Gegenstände bei dir „adoptieren“. Eins noch zu diesem Zylinder: Ich könnte schwören, dass es sich hier so zugetragen hat: Nicht ICH habe IHN ausgewählt… ER hat MICH ausgewählt. Ich bin mir sicher. So intensiv wie hier wurden diese Gegenstände jedenfalls seit Jahren nicht wahrgenommen.

Jan Richter im Zylinder

Eröffnungsansprache von Jan Richter bei Tante Mariechen (photo by hansam)

 

„Sawu bona“, mit diesem Gruß begegnen sich Menschen in einer Provinz in Südafrika (Natal). Das heißt übersetzt: „Ich sehe Dich!“

Der Gesehene antwortet dann mit „Sikhona“ was soviel bedeutet wie: „Weil Du mich siehst, bin ich da.“

Wir sehen hier Gegenstände, die über Jahre nicht wahrgenommen wurden, bis du sie hierherholtest, Alex. Und dann kommen Menschen zu dir. Menschen die hierher kommen, weil du zu ihnen sagst „Ich sehe dich.“ – du sagst das mit deinen Augen und mit deinem Herzen. Und die Menschen Antworten „Weil du mich siehst, bin ich da.“ und: „Weil du mich siehst, komme ich wieder.“

Das ist die ureigene Tradition des Einzelhandels, Menschen zu (er)kennen und sie mit ihren Bedürfnissen wahrzunehmen. Und was passt da besser, als den Namen „Tante Mariechen“ zu wählen, so wie deine Oma früher genannt wurde. Wenn sie das wüsste! Und jetzt ehrst du sie mit diesem Namen und schaffst damit sogar einen Ort der Begegnung.

Denn darum soll es auch hier wieder gehen: nicht nur eine Plattform, auf der sich Gegenstände neue Menschen aussuchen, die sie adoptieren und „sehen“, sondern Menschen, die einander sehen – und wirklich wahrnehmen. Du hast mir erzählt, dass in den letzten Jahren in diesem Umfeld prächtige Freundschaften entstanden sind – das kann ich gut verstehen. Denn so kenne ich das bei dir, dass ich als Gast zum Freund werde – und das damit auch andere Menschen hier… mehr sind als Anwesende – ich möchte hier nicht das facebook’sche „Freund“ inflationär verwenden.

Ein richtiger Redenkalauer am Rande:
Die Wurzeln von Tante Mariechen liegen drüben im Kornmarkt – was vollkommen logisch erscheint – ohne jeden Zweifel: du hast da drüben wohl ein gutes SamenKORN gelegt und einen besonderen Ort erschaffen, der jetzt in Version zwei geht.

Wer von euch kennt eigentlich das Wort „Lorbas“?

Meine Oma ist vor vielen Jahrzehnten viele hundert Kilometer „mit dem Bollerwagen“ in diese Region gekommen, zu ihrem Mann in die Sicherheit. Meine Oma hat mich immer „gesehen“, ich glaube ich kann sagen, dass wir uns sehr geliebt haben – vielleicht können wir einander gut verstehen, Alex, in dieser Verbindung zu unseren Großmüttern.

Was von meiner Oma geblieben ist, sind Worte. In meinem Fall ist es die Sprache, in deinem Fall ein Name im Schaufenster – und der gute Geist, der Schutzengel, der damit einhergeht. Ein „Lorbas“ ist übrigens ein altes ost-preußisches Wort für „Schlingel“ – einen  eigentümlichen, originellen, eigenwilligen und frechen Jungen. (Zur Erläuterung: mein Vater wurde in Kruschdorf bei Bromberg, heute Polen, geboren.)
Ich habe mir in den letzten Tagen vorgestellt, wie es wäre, wenn in deinen Regalen nicht nur Gegenstände zu finden wären, sondern auch Worte. Das Besondere an Worten ist, dass sie sich vermehren, wenn wir sie teilen – wir können sie quasi gleichzeitig besitzen.

Deswegen möchte ich dir ein Wort von meiner Oma Edith „ins Regal“ stellen, liebe Alex. Das Wort für den frechen Kerl, das Wort „Lorbas“.

Bei meinen Recherchen bin ich noch auf andere Worte hier aus der Region gestoßen, nämlich die Worte aus der sogenannten „manischen“ Sprache aus der Region Gießen.

Dort gibt es den

  • Tschabo = Kerl
  • Tschabo = Freund
  • Hitschetschabo = Träger
  • Mein Favorit:
    Flugtschabo = Vogel

Gleichwohl: zwar geht es genau jetzt um Worte – doch letztlich sind sie die Brücke, damit wir Menschen uns gegenseitig sehen, damit wir uns begegnen und uns mit liebevoll materialisierten Erinnerungen beschäftigen.

Du hast eine wundervolle neue Adresse hier in unserem Lieblingsstädtchen geschaffen, liebe Alex. Du hast das Fundament dafür gegossen. Jetzt liegt es an uns, dass wir uns hier begegnen, was wir – wenn ich mich umschaue – genau jetzt gerade tun.

Darauf, das wir heute hier sind, auf dich und auf die nächsten Jahre deines Schaffens wollen wir unser Glas erheben und anstoßen. Zum Wohl, liebe Alex. Und dann lass dich drücken.“

photos by hansam

photo by hansam

photo by hansam

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